Baptista Neves wurde am 13. September 1958 in Samza Pomb, Angola, geboren. Er kam vor etwa zehn Jahren nach Berlin und wurde als politischer Flüchtling anerkannt. Seine Frau war durch eine Tretmine ums Leben gekommen. Seine Kinder leben bei den Großeltern, es besteht aber kein Kontakt. Die Botschaft vermutet, dass sie sich in einem anderen afrikanischen Staat aufhalten, da alle Suchanstrengungen erfolglos geblieben sind.
Neves, von Beruf Elektriker, arbeitete vor allem auf Baustellen, dort fand er viele Freunde, vor allem Portugiesen. Mit Freude kochte er manchmal für alle auf der Baustelle. Doch noch lieber passte er auf die Kinder seiner Kollegen auf, spielte mit ihnen und machte viel Quatsch. Ganz wichtig war für ihn die Freundschaft mit der portugiesischen Familie Da Silva, die später auch seine gesetzliche Betreuung übernahm.
Die Kinder der Da Silvas waren für Neves wie seine eigenen, er hat sich viel um sie gekümmert. Der Familie Da Silva ist von Anfang an aufgefallen, dass Neves wohl in Angola schlimme Erfahrungen gemacht haben muss, die ihn noch immer sehr belasteten. Oft habe er unter der Eckbank in der Küche geschlafen und hatte Angst, in ein Bett zu liegen. Oder er ist plötzlich aus Panik unter den Tisch gekrochen. Er hatte auch Angst vor Tieren aller Art; wenn jemand einen Hund oder Katze hatte, dann hat er ihn nicht besucht.
Bei einem Besuch in Heilbronn brach Neves zusammen, Epilepsie und Hirnblutungen. Er lag lange im Krankenhaus im Koma und die Ärzte glaubten nicht, dass Neves noch einmal aufwacht. Neves wurde in ein Altenpflegeheim auf die Wachkomastation verlegt. Dort ging es ihm körperlich zunehmend besser, psychisch aber nicht. Er war sehr unruhig, teilweise aggressiv. Die Mitbewohner und das Pflegepersonal haben darauf mit Ausgrenzung und Fixierung reagiert. Niemand hat sich die Mühe gemacht, herauszufinden, was Neves helfen könnte. Ziel war nur noch: Ruhigstellung und Separierung. Die AIDS-Hilfe Heilbronn wurde eingeschaltet, so entstand der Kontakt zu uns. Er ist im November 2006 bei uns eingezogen und hat uns gleich zu verstehen gegeben, er wolle Neves genannt werden und nicht bei seinem schönen Vornamen Baptista.
Neves war ein schwerkranker Mann, ihm ging es an vielen Tagen körperlich und psychisch sehr schlecht. Er war aber tapfer und zäh. Sein breites Grinsen ließ die Sonne aufgehen. Neves wurde schnell von allen Mitarbeitern und Bewohnern ins Herz geschlossen. Besonders gefreut
hat er sich über die Zuwendung unserer jungen weiblichen Mitarbeiterinnen, oder wenn jemand mit ihm portugiesisch oder französisch gesprochen hat.
Er mochte Musik, freute sich sehr über den Besuch von Kindern (Beas Sohn Leo und meine Tochter Lucy haben ihn ab und zu besucht). Neves hat sehr gern gegessen, er war ein richtiger Genießer. Oft hat er in einem Bildband von Angola geblättert, den ihm Thomas E. geschenkt hat. Er hat gern gemalt, sich für Fußball interessiert und gern gespielt. Nur sich helfen lassen; das war ihm anangenehm. Michaela, Krankenwohnung des DRK in Ludwigsburg
Es ist ein kalter Winterabend, als Neves in mein Leben schneit. Ich warte am Berliner Ostbahnhof auf die S-Bahn. Neves fragt mich nach dem Weg. Dabei ist es sein Heimweg, den er sehr gut kennt.
Meinen Freund und mich lädt er danach zum Essen ein. Neves kocht gerne und gut, wir essen mit seinen Freunden. Ich erinnere mich, dass wir aus wunderschönen Muscheln gegessen haben.
Nach dem Essen sehen wir uns ein Familienfoto aus Afrika an. Ein junger Neves in abendlicher Dunkelheit, auf einem Plastikstuhl sitzend. Neben ihm eine schöne Frau. Irgendjemand wird ihr später Drogen in ein Getränk kippen und sie wird drogenabhängig. Aber auf diesem Foto sind die beiden noch ein glückliches Paar mit zwei kleinen Kindern. Ein Kind lehnt an Neves Stuhl, das zweite Kind sitzt auf dem Schoß der Mutter. Oder hält Neves es im Arm? Sind es zwei Kinder auf dem Foto? Oder doch nur eins? Es ist so lange her, ich kann mich nicht mehr genau erinnern.
Wir werfen einen Blick in seine Arztberichte und Behördenschreiben. Aus einer zweiten Ehe gibt es weitere Kinder. Alle Kinder sollen nach Deutschland kommen. In einem Bescheid von der Behörde steht, dass Neves dafür ein unerreichbar hohes Einkommen nachweisen muss. Er bittet mich um Hilfe, aber ich weiß nicht wie ich ihm helfen kann.
An einem Sommertag ein zufälliges Treffen am Kühlregal im Supermarkt. Ein neuer Job. Neves erklärt mir, wie er nachts die Kühlregale putzt, aus denen ich mir tagsüber Joghurts nehme. Das muss 2002 gewesen sein, weil wir darüber sprechen, dass Savimbi gestorben ist. Einmal besucht er uns mit der Tochter der da Silvas. Es gibt Pizza, wir haben den Eindruck, dass die beiden sich sehr gut verstehen. Natürlich erinnere ich mich auch an den rechthaberischen Streit bei einem Spaziergang am Spreeufer. Dort steht „Molecule Man“, eine 30 Meter hohe Skulptur mit Käselöchern. Drei Figuren aus Metall treffen in der Spree aufeinander. Ich meine irgendwo gelesen zu haben, dass an dieser Stelle drei Stadtteile aneinanderstoßen und denke, dass es für die Löcher praktische Gründe gibt. Der Wind muss durch die Figuren hindurchpusten, damit sie nicht wegfliegen, umfallen oder verbiegen. Neves sagt, das ist alles Quatsch. Die Silhouetten zeigen einen Russen, einen Amerikaner und einen Deutschen und sie sind von Maschinengewehrsalven durchsiebt. Einmal ruft er mich verzweifelt an, weil er schon wochenlang im Krankenhaus liegt und es nicht mehr aushält. Ein anderes Mal, weil die zweite Frau auf eine Miene getreten ist.
2005 bin ich nach China gegangen. Als ich 2006 nach Berlin zurückkehre, schiebe ich einen Kinderwagen durch Treptow. Ich wundere mich, dass Neves nicht einfach zufällig neben mir auftaucht. Früher war er hin und wieder auf dem Fahrrad an mir vorbeigefahren. Seine alte Telefonnummer funktioniert nicht mehr.
Erst Jahre später google ich und finde diesen Nachruf. Ich bin traurig, weil es ihm gesundheitlich so schlecht ging, er seine Kinder nicht wiedergesehen hat und er schon vor so langer Zeit gestorben ist. Sehr dankbar bin ich für Euren Nachruf. So ist Neves nicht spurlos aus meinem Leben verschwunden.
Ich denke manchmal an ihn.